Im selben Boot mit den Eisernen

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Was macht eigentlich die Faszination aus, die der FC Union Berlin auf zahlreiche St. Pauli Fans ausübt? Ist es die Gemeinsamkeit, Underdog in einer großen Stadt zu sein? Ist es das rebellische Image, das die Eisernen aus der DDR-Zeit herübergerettet haben? Ist es das enorme Engagement der Fanszene für ihren Verein, das darin gipfelte, dass die Fans beim Neubau eines Stadionteils selbst zum Spaten griffen? Ist es das kompromisslose Engagement der Vereinsführung für die Fanrechte, von dem sich unser eigenes Präsidium eine Scheibe abschneiden könnte?

Vermutlich ist es eine Mischung aus allem, und ein Teil der Union-Fans erwidert diese Sympathie. Es gibt allerdings auch Trennendes. Überfälle auf St. Pauli Fans durch Unioner gibt es bei fast jedem Aufeinandertreffen. Und als der Pressesprecher der Eisernen vor kurzem in einem Radio-Interview die eigene Stadionordnung dahingehend relativierte, dass Thor-Steinar-Träger an der Alten Försterei nicht abgewiesen würden, stellten sich bei weiteren St.Pauli-Fans die Nackenhaare hoch. Das Beschwören einer Fanfreundschaft oder gar einer Blutsbrüderschaft ist jedenfalls reiner Medienmist.
Dennoch ist die Auswärtsfahrt an die Alte Försterei einer der Höhepunkte für den braun-weißen Auswärtsmob – und deshalb traditionell ausverkauft. Wer das mehrstündige Anstehen am Kartencenter bei Minusgraden nach Heimspielkarten seit der Fertigstellung der Gegengeraden vermisste, konnte beim Verkaufstart für das Unionspiel in den guten, alten Zeiten schwelgen.
Wie dem auch sei: Nord Support hatte genug Tickets bekommen, um eine ordentliche Gruppe nach Berlin zu schicken. Fast schon traditionell teilten sich die Berlin-Fahrer auf alle angebotenen Anreisewege aus. Einige nutzten den Fanladen-Bus, andere die ICE-Gruppenfahrt des Fanladens und ein einzelner Nord-Supportler hatte sich für einen exotischen Anreiseweg entscheiden – eine kombinierte Bahn- und Bootstour.
Die Bahnfahrer bekamen umgehend das Organisationstalent und die Kundenorientierung der Deutschen Bahn zu spüren. Weil ja St. Pauli-Fans sowieso lieber stehen, rollte ein halbierter ICE in den Bahnhof Hamburg Altona ein – die für die Fans reservierten Plätze befanden sich selbstverständlich in den gecancelten Waggons. Als sich alle Fahrgäste in den Zug gequetscht hatten befand die Zugchefin dann doch, dass der ICE ein wenig zu voll sei und bat einen Teil der Fahrgäste darum, einfach den nächsten Zug zu nehmen. Angesichts der knappen Anreisezeit bis zum Anpfiff eine Idee, die spontan eher weniger Anhänger fand.
Mal ganz ehrlich: Die DB ist offenbart gut versichert. Eine weniger friedfertige Fanszene hätte in dieser Situation die Inneneinrichtung des Zugs zur Gewichtsreduktion und Verbesserung des Platzangebotes nach außen geschafft. Immerhin: Da die Berliner S-Bahn an diesem Tag mal pünktlich fuhr, erreichten zumindest die Bahnfahrer, die der Bitte zum Trotz im Zug verblieben waren, rechtzeitig die Alte Försterei.
Als geruhsamer erwies die die Anreise auf einem Spreedampfer. Drei Stunden vor Anpfiff trafen sich Fans der Eisernen und St. Paulianer, um zusammen nach Köpenick zu schippern. Zwar waren die Temperaturen an Deck durchaus frisch, was aber dank der exzessiv genutzten Schanklizenz an Bord des Kutters nicht so ins Gewicht fiel. Dank touristischer Highlights und netter Gespräche – auch mit Eisernen – vergingen die zwei Stunden Fahrzeit relativ schnell. Es gab sogar TV-Prominenz an Bord. Moderator Michel Friedman fand die Bootsanreise wohl irgendwie „kultig“ und stellte seine Fragen. Dabei störte er ein wenig beim Bepöbeln einer Bootsbesatzung der Wasserschutzpolizei, die der gemischten Fanfuhre in geringem Abstand folgte.
Am Mecklenburgischen Dorf (keine Rostocker, aber dafür Team Green) trennten sich dann die Wege. Auf kürzestem Weg ging es in Richtung Gästeblock, vorbei an der Shell-
Tankstelle, wo die Berliner Polizei gerade mit ein paar Festnahmen beschäftigt war. Wie üblich fehlte dem Berliner Team Green an der Alten Försterei zwar nicht der Enthusiasmus bei der Disziplinierung der Fans, aber dafür der Durchblick.  Einigen in Rot gekleideten Fans wurde im Rahmen der Fantrennung – darauf ist man bei Union so richtig stolz – der Zugang zum Gästeblock verwehrt. Wer lesen kann, ist allerdings klar im Vorteil. Es handelte sich nicht um rauflustige Union-Hools, sondern um Anhänger des antirassistischen Vereins Partizan Minsk, welche die Partie zusammen mit den St. Pauli-Fans verfolgen wollten. Diese fanden den Polizeieinsatz offenbar nicht weiter schlimm. „Your police is funny“, sagte jedenfalls ein Minsk-Fan, der es zuhause wohl mit anderen Kalibern zu tun hat.
Die Eingangskontrolle lief diesmal sehr entspannt. Nachdem der Auswärtssupport bei den Knallerpartien in Sandhausen und Aalen eher ausbaufähig war, zeigten sich diesmal die braun-weißen Fans voll auf der Höhe. Die Spieler auch: Angetrieben von den alten Fußballgöttern Fabian Boll, Marius Ebbers (mit seinem 100. Zweitliga-Treffer) und Florian Bruns lieferte der magische FC den spielerisch besseren Berlinern einen guten Kampf und unterlagen mit 2:4. Eine schöne Auswärts-Choreo und ein lautes „You never walk alone“ samt Schalparade nach dem Schlusspfiff wären eigentlich die Zutaten  zu einem stimmungsvollen Stadionerlebnis gewesen, wie es der DFB ja so gern propagiert.
Aber daran war an diesem Abend offenbar nicht jedem gelegen. Während sich unsere Gruppe in der Nähe des Ausgangs sammelte, begannen die Förster, sich aus der Menge der friedlich abrückenden Fans einzelne Leute herauszupicken, um sie festzunehmen. Keine Ahnung, was die Leute angestellt haben sollen, jedenfalls waren Ort und Zeitpunkt des Zugriffs auch für völlig Unbeteiligte nicht ungefährlich. Auf der relativ kleinen Fläche zwischen den Verkaufsbuden gab es überall Schubsereien, kostbares Vollbier wurde verschüttet. Einige Ordner nutzten die Gelegenheit zum Frustabbau und gingen auf Unbeteiligte los. Unvermittelt beruhigte sich die Lage wieder. Das Bild des Tages: Ein kleiner St. Pauli Fan, der sich vor einem hünenhaften Chefordner aufgebaut hatte und schimpfte wie ein Rohrspatz.  Der Ordner schaute verblüfft nach unten und fragte mit seinem Berliner Akzent: „War willst Du denn?“ Bevor die beiden ihre noch junge Bekanntschaft vertiefen konnten, wurde der St. Paulianer von einem Freund beiseite gezogen und mit einem Bier beruhigt. Höchste Zeit zum Abmarsch.
Vor dem Rückweg zum S-Bahnhof Köpenick durch den Wald entlang der Wuhle werden Auswärtsfans eigentlich gewarnt. Dort warte die örtliche Backenfutter-Fraktion auf  den Erwerb gegnerische Fanutensilien, hieß es. Dabei wird ein Prinzip angewendet, das zeigt, dass man auch in Köpenick in der Marktwirtschaft angekommen ist. Die Union-Hools zahlen nichts, die Vorbesitzer kassieren aber trotzdem kräftig. Von einer Win-Win-Situation zu sprechen, wäre jedoch übertrieben. Da wir diese Information nicht hatten, beziehungsweise nicht Ernst nahmen, schlugen wir den Weg trotzdem ein und erreichten den Bahnhof ohne Zwischenfall, wenngleich auf der falschen Seite.
Anderen St. Paulianern erging es nicht so gut. Sie wurden im Umfeld und sogar in der Union-Vereinskneipe „Abseitsfalle“ verprügelt. Für einen endete der Abend sogar im Krankenhaus. Soviel zum Thema Blutsbrüderschaft. Viel Blut, wenig Brüderschaft.
In der S-Bahn war es mit der Fantrennung dann endgültig vorbei. In unserem Waggon lieferten wir uns einen Gesangsbattle mit den Eisernen. Diesen entschieden wir klar zu unseren Gunsten, weil den Unionern irgendwann das Liedgut ausging. Nach „Auf der Reeperbahn nachts um halb eins“ war auf der anderen Seite des Waggons dann Ruhe. „Euch sagen wir nicht mehr, wo ihr längs müsst. Das habt ihr Euch verscherzt“ brummelte ein Unioner.
Aber das wussten wir auch so: den Weg in unsere Berliner Menschenfallen wie das Oberbaumeck oder die Astra Stube in Neukölln findet man bekanntlich in jedem Zustand – was sich im Laufe der Nacht noch für viele Fans in braun-weiß als praktisch herausstellen sollte.